Todesanzeigen im Wandel der Zeit

Es gibt ein Leben nach der Todesanzeige

Die Zeitungen im Zeitalter des souveränen Konsumenten

Nach der Jahrtausendwende ist die Tagespresse in starke Turbulenzen geraten. In ihrer Krise spiegelt sich der ungeheure Wandel der gesamten Medienlandschaft in den vergangenen 25 Jahren. Journalismus wird zunehmend eine Dienstleistung.

Einst waren Tageszeitungen mehr als ein blosses Informations- und Kommunikationsmittel. Nach der täglichen Lektüre fanden sie vielfältige Verwendung im Alltag, sei es, um nasse Schuhe auszutrocknen, den Ochsnerkübel auszulegen, beim Kartoffelschälen die Hülsen aufzufangen, auf dem Markt Nahrungsmittel einzuwickeln – oder eine lästige Fliege zu erschlagen. Schön zurechtgeschnitten, waren Zeitungen auch auf der Toilette nützlich. Was an Papier im Haushalt noch übrig blieb, wurde schliesslich von gemeinnützigen Organisationen eingesammelt. Der Verkauf von Altpapier brachte Geld ein. Dieser Kreislauf funktioniert nicht mehr. Die Konsumgesellschaft erfand Abfallsäcke, Toiletten- und Einwickelpapier, um das Alltagsleben komfortabler zu machen. Gelesene Zeitungen wurden nutzlos. Deren Entsorgung ist kein Geschäft mehr, sondern ein Kostenfaktor. Und als die Pendlerblätter aufkamen, wurden die in den öffentlichen Verkehrsmitteln zurückgelassenen Informationsfetzen gar zur ästhetischen und physischen Belästigung.

Massiver Einbruch
Diese Erinnerungen an untergegangene Lebenswelten veranschaulichen den Umbruch, den die Tageszeitungen zurzeit durchmachen. Zur Jahrtausendwende erlebte die Presse zwar nochmals goldene Zeiten. Die Ausgaben waren prallvoll von Inseraten. Nach 2001 änderte sich die Situation aber jäh. Im Jahre 2000 publizierte die Schweizer Tagespresse 231 700 Inserateseiten. Vier Jahre später waren es noch 120 200 Seiten. Proportional noch markanter war in dieser Phase der Rückgang der Stelleninserate, und zwar von 52 700 auf 15 500 Seiten. Ähnlich dramatische Einbrüche verzeichneten die ausländischen Tageszeitungen, insbesondere die überregionalen Titel. Die Verlage waren gezwungen, die Budgets um bis zu 30 Prozent zu kürzen. Blätter gerieten in Liquiditätsengpässe. Einige Titel wie die «Frankfurter Rundschau» oder die «Libération» kämpfen auch jetzt noch um ihr Überleben. Angesichts der Existenznöte im Blätterwald ertönten medienpolitische Notrufe. Ein wichtiger Pfeiler der demokratischen Gesellschaften sei in Gefahr, hiess es. Andere sahen ihre schon früher gemachte Diagnose bestätigt, dass die Tagespresse nach der Internet-Revolution ohnehin dem Untergang geweiht sei.

Die Krise der Tagespresse ist demokratiepolitisch zweifellos bedeutsam. Die Zeitungen waren ein wesentlicher Faktor bei der Entstehung der westeuropäischen Demokratien. Sie sind nach wie vor ein zentrales Forum der Informationsvermittlung und der politischen Meinungsbildung. Der Zürcher Publizistikprofessor Otfried Jarren formuliert es so: «Die Tageszeitungen gehören wie politische Parteien, Verbände, Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen oder kirchliche Institutionen zur sozialen Infrastruktur unserer Gesellschaft.» Ihnen komme eine nicht unerhebliche Binde- und Integrationsfunktion für die Gesamtgesellschaft zu. Der Niedergang der Presse würde also auch die Gesellschaft massiv tangieren.

Immer noch starke Position
Doch die Verfallstheoretiker übertreiben. Sie übersehen, dass viele Blätter weiterhin respektable Renditen realisieren und zumindest in den «Zeitungsländern» – England, Deutschland, Skandinavien, Schweiz – über eine starke, gar dominierende Position verfügen. Hierzulande beträgt der Anteil der Tageszeitungen an den Umsätzen der klassischen Werbung im laufenden Jahr etwa 44 Prozent; das Fernsehen erzielt einen Marktanteil von 23 Prozent. Die Deutschschweizer Tagespresse erreicht immer noch gut 80 Prozent der Bevölkerung. Aber zweifellos: Werbemarktanteile und Reichweiten sinken, während die elektronischen Medienmärkte zulegen. Noch 1997 wurden die Tageszeitungen von 86 Prozent der Deutschschweizer gelesen. International gesehen sind die Tendenzen ähnlich.

Der dramatische Einbruch nach der Jahrtausendwende ist allerdings bloss Teil eines schleichenden Prozesses, der seit einem Vierteljahrhundert wirksam ist und wesentlich durch die technischen Entwicklungen im elektronischen Bereich geprägt ist. Darin sind wichtige Gründe für die Schwierigkeiten der klassischen Tagespresse zu suchen. Explosion der Medienangebote, Internationalisierung, Beschleunigung, Segmentierung, Individualisierung und Rückgang der Lesekultur sind dazu die Stichworte.

Ab den 1980er Jahren zeichnete sich ab, dass die bisher von öffentlichen Rundfunkanstalten dominierte Fernsehlandschaft umgepflügt werden würde. Die Möglichkeit, Fernsehprogramme über Satelliten zu übertragen und individuell zu empfangen, musste die Monopole der öffentlichen Sender sprengen. Eine autarke nationale Rundfunkpolitik war nicht mehr durchsetzbar, die Zulassung privater Sender nicht mehr aufzuhalten. Als Folge vermehrten sich die Programme explosionsartig. Es entstand ein milliardenschwerer Markt mit international tätigen Fernsehgruppen wie RTL und Canal plus, die ihre Angebote nach klar kommerziellen Gesichtspunkten ausrichten.

Das wiederum führte zu einer Aufweichung der Eckpunkte der klassischen Publizistik. Die wachsende Konkurrenz unter den Medien erzwang eine stärkere Ausrichtung auf die Konsumenten. Information verlor dadurch an Bedeutung. Um den immer ungeduldigeren, nun mit einer Fernbedienung bewaffneten Konsumenten vom Umschalten abzuhalten, musste die Information zusehends unterhaltend und leicht konsumierbar präsentiert werden. Denn die neuen Techniken der Zuschauerforschung erlaubten nun eine tägliche Überprüfung dessen, wie die jeweiligen Angebote genutzt werden. Eine Technik übrigens, die im Umfeld der SRG-Forschung mitentwickelt und international vermarktet wurde.

Aber nicht nur das. Die wachsenden Übertragungskapazitäten erweiterten die Meinungs-, Informations- und Unterhaltungsforen zu audiovisuellen Märkten, wo auf speziellen Kanälen Konsumgüter, Reisen, Glücksspiele und auch Liebesbeziehungen gehandelt werden. Und das mit kommerziellem Erfolg. Zehn Jahre nach dem Start der ersten Teleshopping-Sender in Deutschland werden in diesem Sektor bereits über eine Milliarde Euro umgesetzt. Einen weiteren ungeheuren Innovationsschub löste ab Mitte der neunziger Jahre das Internet aus, das sich rasant zu einem Massenmedium entwickelte. Inzwischen nutzen bereits 54 Prozent der Schweizer das Netz der Netze mehrmals pro Woche. Überdies verfügen inzwischen 17 Prozent der Bevölkerung über einen Breitbandanschluss. Ein solcher erlaubt es, ohne Zeitverzögerung grosse Datenmengen abzurufen. Das Internet wandelt sich damit von einem textorientierten zu einem durch Bilder und Filme bestimmten Medium. Auch das zwingt die Tageszeitungen, die das Internet als Kommunikationsmittel verwenden, zu einem härteren Kampf um die Aufmerksamkeit der Nutzer. Überdies bedrohen neue Akteure ein traditionelles Geschäftsfeld der Presse, indem sie Websites für Kleinanzeigen starteten.

Konsumenten mit grösserem Spielraum
Ebenso bedeutsam sind die interaktiven Möglichkeiten, die sich mit den digitalen Techniken auftun. Sei es über Internet, über Mobiltelefon oder über Fernsehgeräte mit Zusatzgeräten für die effizientere Programmauswahl: Der Handlungsspielraum des Konsumenten erweitert sich beträchtlich. Er kann nach eigenem Gutdünken aus einer Vielzahl von Angeboten sein je eigenes Menu zusammenstellen.

Das gilt ebenso für den Informationsbereich. Die neuen technischen Dispositive nivellieren das Wissensgefälle zwischen Nachrichtenherstellern und den Konsumenten. Diese sind nun in der Lage, dank Internet-Suchmaschinen wie Google innert kurzer Zeit Informationen aller Art zusammenzutragen, ohne dass sie zuvor von einem professionellen Anbieter gebündelt worden wären. Gratis verfügbare Informationen gibt es zuhauf. Die Schwellen zum Eintritt in den Medienmarkt sind nun tiefer. Wer sich wiederum mit einem Anliegen an die Öffentlichkeit wenden will, ist bedeutend weniger abhängig von der Bereitschaft einer Redaktion, die jeweilige Botschaft zu verbreiten. Bereits gibt es unzählige Web-Tagebücher, sogenannte Blogs, die in den USA teilweise sogar einen gewissen kommerziellen Erfolg verbuchen. Vor allem aber wirken sie aufs klassische Mediensystem ein, indem sie Gerüchte und Neuigkeiten verbreiten, die von den Journalisten aufgegriffen werden. Die Blog-Aktivsten beteiligen sich in den USA vehement an den weltanschaulichen Kämpfen um die Rechts- beziehungsweise Linkslastigkeit der klassischen Medien. Sie skandalisierten Journalisten wegen angeblicher Fehler, und es kam zu Rücktritten. Das sind die Trophäen der Blogs.

Die genannten Entwicklungen haben die souveräne Position der Medien als Überbringer von Botschaften erschüttert. Allein schon die Riesenmenge an Informations-, Unterhaltungs- und Konsumangeboten führte zu einem Bedeutungsverlust der traditionellen Anbieter. Das bedeutet, dass auch die Tageszeitungen gezwungen sind, vermehrt kundenorientiert zu denken und sich am Mehrheitsgeschmack zu orientieren. Gleichzeitig wachsen die Ansprüche ans Marketing, um beim emanzipierten Konsumenten überhaupt Gehör zu finden. Der Mentalitätswandel bei der Presse spiegelt sich darin, dass nun vermehrt Forschungsmittel eingesetzt werden, die – analog zur Messung der Einschaltquoten – kurzfristige Erkenntnisse über das Leserverhalten versprechen. So verwenden einige Regionalblätter den sogenannten Readerscan (der ebenfalls in der Schweiz entwickelt wurde). Das Gerät registriert jene Artikel und Textteile, die von einem Testpublikum als gelesen markiert wurden. Die Daten können tagesaktuell ausgewertet werden. Sie prägen entsprechend das publizistische Angebot.

Diese Faktoren verändern das Selbstverständnis der klassischen Pressetitel, die bisher auf paternalistische Weise das Publikum mit Lesestoff versorgten. Die Journalisten als Wachhunde der Demokratie und Anwälte des Staatsbürgers werden zusehends zu Dienstleistern für Konsumenten. Fluchtpunkt dieser Entwicklung sind die Pendlerzeitungen, die zurzeit weltweit die Agglomerationen erobern und im Pressesektor als einzige kräftige Wachstumszahlen verzeichnen. Diese Protagonisten der McDonald’s-Publizistik kennen keine staatspolitischen Verpflichtungen. Vielmehr versorgen sie den noch schlaftrunkenen Pendler mit leicht konsumierbarer Ware. Das journalistische Kalkül orientiert sich nach kommerziellen Kriterien.

Hilfe für Überforderte
Die Demokratisierung des Medienkonsums droht indessen die Nutzer zu überfordern. Sie brauchen einen starken Orientierungssinn, um im anschwellenden Medienlärm ihre Ziele nicht aus dem Auge zu verlieren. Darum werden viele auch künftig den Datendschungel zu meiden versuchen, lieber ins Sofa sinken und sich berieseln lassen – oder sich auf die Dienste professioneller Informationsverarbeiter verlassen. Aus diesem Grund werden die klassischen Medien als Anbieter von kompakten Angeboten ihre Bedeutung behalten, seien dies nun die televisuellen Unterhaltungsdampfer oder eben die Pressetitel. Letztere sind als Vermittler von Orientierungswissen mit Tiefenschärfe kaum durch ein anderes Medium ersetzbar. Ob sie langfristig auf «echtem» oder nur noch auf elektronischem Papier erscheinen werden, bleibt eine zweitrangige Frage. Aber mit Marktanteils- und Reichweitenverlusten haben insbesondere die Tageszeitungen wohl weiterhin zu rechnen. Und sie müssen sich wie alle Akteure auf unübersichtlichere, instabilere und unberechenbarere (Medien-)Umweltbedingungen einrichten.