Tagebuch

Tagebuch
(1967)

Wir leben, um zu sterben. Der Tod ist das Ziel der
Existenz, das ist, wird man sagen, eine Binsenweisheit. Doch zuweilen
verschwindet hinter einem abgegriffenen Ausdruck das Banale, und die
Wahrheit taucht auf, taucht ganz neu wieder auf. Mir scheint, ich
durchlebe einen jener Augenblicke, da ich mir zum ersten Male sage,
da ich zum ersten Male entdecke, daß die Existenz nur ein Ziel hat:
den Tod. Man kann nichts dagegen tun. Man kann nichts tun. Man kann
nichts tun. Man kann nichts dagegen tun. Aber was sind das für Lebensbedingungen,
an Fäden gezogen zu werden wie Marionetten? Mit welchem Recht hält
man mich zum Narren?
Noch heute wundere ich mich manchmal, nicht mehr zwölf Jahre alt zu
sein.

Wenn ich Phädon lese, merke ich erst am Ende des
Dialogs, wie gut wir dran sind. Sokrates hat mich nicht davon überzeugen
können, daß die Seele unsterblich ist und daß er künftig in einer
besseren Welt leben wird. Anscheinend sind seine Jünger auch nicht
davon überzeugt, denn sie weinen; warum sollten sie sonst weinen?
Wenn der Abend kommt und Sokrates das Gift trinkt, wenn seine Füße
erkalten und der Leib, und wenn er schließlich stirbt, packt mich
ein Schrecken, eine unsägliche Traurigkeit. Die Beschreibung von Sokrates’
Tod ist so überzeugend, viel überzeugender als die Argumente, die
Sokrates für die Unsterblichkeit anführt. Außerdem verflüchtigen sich
die Argumente augenblicklich; man vergißt sie sofort, doch das Bild
vom Tod des Sokrates gräbt sich in meine Erinnerung; alle Menschen
sind sterblich. Da Sokrates ein Mensch ist, ist er sterblich. Heute
Nacht lag ich wach und dachte daran. Seit langem hatte ich keine so
hellsichtige, greifbare, eisige Angst mehr empfunden. Furcht vor dem
Nichts. Wie soll ich es beschreiben? Ich legte die Hände auf die Brust,
um zu spüren, daß ich da war; dann plötzlich war mir, als hätte die
Finsternis des Nichts bereits begonnen, mich zu verschlingen, als
hätte ich schon keine Füße, keine Waden, keine Schenkel mehr; ich
war nur noch ein Rumpf, an dem die eisigen Flammen des Nichts zehrten.
Ich machte Licht. Wie gut ist es zu leben! Zärtlichkeit stieg in mir
auf für das Leben, das mir feenhaft schien, eine leuchtende Zauberei
der Nacht. Wir töten uns gegenseitig, weil wir wissen, daß wir alle
getötet werden. Weil wir den Tod hassen, darum töten wir einander.
Der friedvolle, heitere Tod des Sokrates scheint mir plötzlich ganz
unwahrscheinlich, und doch ist so etwas möglich. Aber wie?

Eugéne Ionesco