phaidon

Phaidon
(ca. 387-367 v. Chr.)

Sokrates. In der Tat also, mein Simmias,
trachten die wahren Philosophen danach, zu sterben, und der Tod ist
ihnen von allen Menschen am wenigsten furchtbar. Stelle nur folgende
Erwägung an. Wenn sie nämlich in jeder Hinsicht mit dem Leibe entzweit
sind und die Seele ganz für sich allein haben wollen, wäre es da nicht
die größte Torheit, wenn sie sich bei Erfüllung dieses Wunsches fürchten
und unwillig sein wollten, anstatt mit Freuden dahin zu gehen, wo
sie nach ihrer Ankunft hoffen dürfen, das zu erlangen, wonach sie
ihr Leben lang getrachtet haben – es war dies aber die Vernunfterkenntnis
-, und vom Zusammensein mit dem befreit zu werden, was ihnen zuwider
war?
Oder sollten nur viele nach dem Tode sterblicher Lieblinge oder Frauen
und Kinder freiwillig in die Unterwelt haben gehen wollen, von der
Hoffnung geleitet, dort die wiederzusehen, nach denen sie sich sehnten,
und mit ihnen zusammen zu sein; wer aber die Vernunfterkenntnis wirklich
liebt und ebendieser zuversichtlichen Hoffnung lebt, er werde nirgend
anderswo ihrer nach Wunsch teilhaftig werden als in der Unterwelt,
den sollte es verdrießen zu sterben, und er sollte nicht freudig dorthin
aufbrechen?
Nein, das kann man nicht glauben, mein Bester, wenigstens nicht, wenn
er ein echter Philosoph ist. Denn gar fest wird ein solcher dies glauben,
daß er nirgend woanders die reine Wahrheit antreffen wird als dort.
Verhält sich das aber so, wäre es da nicht, wie gesagt, große Unvernunft,
wenn ein solcher den Tod fürchtete?

Plato