Die Pest

Die Pest
(1947)

Ohne aus dem Schatten herauszutreten sagte der Arzt, er habe schon geantwortet: Wenn er an einen allmächtigen Gott glaubte, würde er aufhören, die Menschen zu heilen und würde diese Sorge ihm überlassen. Aber niemand auf der Welt – nein, nicht einmal Paneloux, der glaube, daran zu glauben – glaube an einen solchen Gott, da niemand sich völlig hingebe, und zumindest darin glaube er, Rieux, auf dem Weg der Wahrheit zu sein, indem er gegen die Schöpfung, so wie sie war, ankämpfe.
"Ach, das ist also die Vorstellung, die Sie sich von Ihrem Beruf machen?"
"Ungefähr", sagte der Arzt und trat wieder ins Licht.
Tarrou pfiff leise, und der Arzt sah ihn an.
"Ja", sagte er, "Sie denken, daß dazu Stolz nötig ist. Aber ich habe nicht mehr als den nötigen Stolz, glauben Sie mir. Ich weiß nicht, was mich erwartet und was nach all dem hier kommen wird. Vorerst sind da die Kranken, und sie müssen geheilt werden. Danach werden sie nachdenken und ich auch. Aber das dringendste ist, sie zu heilen. Ich verteidige sie, so gut ich kann, das ist alles."
"Gegen wen?"
Rieux wandte sich zum Fenster. An einer dichteren Dunkelheit des Horizonts erahnte er in der Ferne das Meer. Er spürte nur seine Müdigkeit und kämpfte gleichzeitig gegen einen plötzlichen, unsinnigen Wunsch, sich diesem eigenartigen, aber wie er fühlte, brüderlichen Mann etwas mehr anzuvertrauen.
"Ich habe keine Ahnung, Tarrou, ich schwöre Ihnen, daß ich keine Ahnung habe. Als ich diesen Beruf ergriffen habe, geschah es gewissermaßen abstrakt, weil ich einen brauchte, weil es eine Stellung wie alle anderen war, eine von denen, die junge Leute sich zum Ziel setzen. Vielleicht auch, weil es besonders schwierig für einen Arbeitersohn wie mich war. Und dann mußte man sterben sehen. Wissen Sie, daß es Leute gibt, die sich weigern zu sterben? Haben Sie je eine Frau im Sterben ‚Niemals!‘ schreien hören? Ich schon. Und dann ist mir klar geworden, daß ich mich nicht daran gewöhnen konnte. Ich war jung, und mein Ekel glaubte sich gegen die Weltordnung selbst zu richten. Seitdem bin ich bescheidener geworden. Nur habe ich mich immer noch nicht daran gewöhnt, sterben zu sehen. Mehr weiß ich nicht. Aber schließlich …"
Rieux verstummte und setzte sich wieder. Er merkte, daß sein Mund trocken war.
"Schließlich?" sagte Tarrou leise.
"Schließlich ..", fuhr der Arzt fort, zögerte wieder und sah Tarrou aufmerksam an, "ist es etwas, was ein Mann wie Sie verstehen kann, nicht wahr, aber da die Weltordnung durch den Tod bestimmt wird, ist es für Gott vielleicht besser, daß man nicht an ihn glaubt und mit aller Kraft gegen den Tod ankämpft, ohne die Augen zu diesem Himmel zu erheben, in dem er schweigt."
"Ja, das kann ich verstehen", stimmte Tarrou zu. "Aber Ihre Siege werden immer vorläufig sein, das ist alles."
Rieux schien sich zu verdüstern.
"Immer, das weiß ich. Das ist kein Grund, den Kampf aufzugeben."
"Nein, das ist kein Grund. Aber ich kann mir jetzt vorstellen, was diese Pest für Sie bedeuten muß."

Albert Camus