Mein Rat

Mein Rat
(ca. 630 v. Chr.)

Das Endeziel von allem ist, o Sohn,
Beim hohen Zeus; der stellts, wohin er will.
Der Mensch ist sinn-los. Immer leben wir
Nur einen Tag und wissen nicht, wie Gott
Mit einem Sterblichen es enden werde.
Indessen nährt die süße Trügerin,
Die Hoffnung uns, auch wenn zum Nichtigen
Wir streben. Dieser hofft den nächsten Tag;
Der andre künftger Sommer Ernten; da
Ist keiner, der sich nicht beim neuen Jahr
Ein freundliches, ein segenreiches Glück
Verheiße. Jenen rafft indes das Alter weg,
Eh er zum Ziel gelangte; diesen zehrt
Die Krankheit auf. Die zähmt der wilde Mars
Und sendet sie zur Totenschar hinab
In Plutos unterirdisch-schwarzes Haus.
Die sterben auf dem Meer: der Sturm ergriff,
Die schwarze Welle riß sie fort mit sich;
Hin ist ihr Leben, ihre Hoffnung hin.
Der greift, unglücklich Schicksal! selbst zum Strick
Und raubt sich selbst der schönen Sonne Licht.
Nichts ist von Plagen frei: zehntausende
Der Tode stehn, ein unabwendbar Heer

Von Schmerz und Plagen stehn dem Sterblichen
Ringsum. O glaubten meinem Rate sie,
So liebte keiner doch sein Unglück selbst
Und zehrte sich das Herz in Unmut ab.

Semonides von Amorgos
(übertragen von Johann Gottfried Herder)