Gedicht Andreas Gryphius Am Ende

Am Ende

Ich habe meine Zeit in heißer Angst verbracht:
Dies lebenslose Leben

Fällt, als ein Traum entweicht,
Wenn sich die Nacht begeben
Und nun der Mond erbleicht;
Doch mich hat dieser Traum nur schreckenvoll gemacht.

Was nutzt der hohe Stand? Der Tod sieht den nicht an.
Was nutzt mein Tun und Schreiben,
Das die geschwinde Zeit
Wird wie den Rauch zertreiben?
O Mensch, o Eitelkeit,
Was bist du als ein Strom, den niemand halten kann?

Jedoch was klag ich dir? Dir ist mein Leid erkannt.
Was will ich dir entdecken,
Was du viel besser weißt:
Die Schmerzen, die mich schrecken,
Die Wehmut, die mich beißt,
Und daß ich meinem Ziel mit Winseln zugerannt?

Andreas Gryphius

Gedicht Erich Kästner Ein alter Mann geht vorüber

Ein alter Mann geht vorüber

Ich war einmal ein Kind. Genau wie ihr.
Ich war ein Mann. Und jetzt bin ich ein Greis.
Die Zeit verging. Ich bin noch immer hier
Und möchte gern vergessen, was ich weiß.
Ich war ein Kind. Ein Mann. Nun bin ich mürbe.
Wer lange lebt, hat eines Tags genug.
Ich hätte nichts dagegen, wenn ich stürbe.
Ich bin so müde. Andre nennen’s klug.

Ach, ich sah manches Stück im Welttheater.
Ich war einmal ein Kind, wie ihr es seid.
Ich war einmal ein Mann. Ein Freund. Ein Vater.
Und meistens war es schade um die Zeit…
Ich könnte euch verschiedenes erzählen,
Was nicht in euren Lesebüchern steht.
Geschichten, welche im Geschichtsbuch fehlen,
Sind immer die, um die sich alles dreht.
Wir hatten Krieg. Wir sahen, wie er war.
Wir litten Not und sah’n, wie sie entstand.
Die großen Lügen wurden offenbar.
Ich hab’ ein paar der Lügner gut gekannt.

Ja, ich sah manches Stück im Welttheater.
Ums Eintrittsgeld tut’s mir noch heute leid.
Ich war ein Kind. Ein Mann. Ein Freund. Ein Vater.
Und meistens war es schade um die Zeit…

Wir hofften. Doch die Hoffnung war vermessen.
Und die Vernunft blieb wie ein Stern entfernt.
Die nach uns kamen, hatten schnell vergessen.
Die nach uns kamen, hatten nichts gelernt.
Sie hatten Krieg. Sie sahen, wie er war.
Sie litten Not und sah’n, wie sie entstand.
Die großen Lügen wurden offenbar.
Die großen Lügen werden nie erkannt.

Und nun kommt ihr. Ich kann euch nichts vererben:
Macht, was ihr wollt. Doch merkt euch dieses Wort:
Vernunft muß sich ein jeder selbst erwerben,
Und nur die Dummheit pflanzt sich gratis fort.
Die Welt besteht aus Neid. Und Streit. Und Leid.
Und meistens ist es schade um die Zeit.

Erich Kästner

Gedicht Joseph v. Eichendorff Im Alter

Im Alter

Wie wird nun alles so stille wieder!
So war mirs oft in der Kinderzeit,
Die Bäche gehen rauschend nieder
Durch die dämmende Einsamkeit,
Kaum noch hört man einen Hirten singen,
Aus allen Dörfern, Schluchten weit
Die Abendglocken herüberklingen,
Versunken nun mit Lust und Leid
Die Täler, die noch einmal blitzen,
Nur hinter dem stillen Walde weit
Noch Abendröte an den Bergesspitzen
Wie Morgenrot der Ewigkeit.

Joseph v. Eichendorff

Gedicht Elias Canetti Alles

Alles

Was du gegen den Tod zu sagen hast, ist nicht weniger unwirklich als die
Seelen-Unsterblichkeit der Religionen.
Es ist sogar noch unwirklicher, denn es will alles bewahren, nicht nur eine Seele.
Eine Unersättlichkeit, die beinahe nicht zu begreifen ist.

Elias Canetti