Wort vom Tod

Ich gehe ihm aus dem Weg
laufe ihm in den Weg
der lebenslang um mich wirbt
mit schwarzer Magie

Ich verwandle ihn
in ein Wort
drei Buchstaben
der Wohlklang tut weh

Rose Ausländer

Gesammelte Gedichte, 1978

Kallondji

Kallondji erweckt Tote

Kallondji (=Ndji der Lügner) und Tonjandji (=Ndji der Wahrhaftige, der immer die Wahrheit sagt) gingen zusammen auf Reisen. Tonjandji sagte: "Wer von uns beiden ist Silatigi?" (=Reiseleiter). Kallondji sagte: "Ich will Silatigi sein!" Tonjandji sagte: "Nein, ich will Silatigi sein." Kallondji sagte: "Nein, ich will Silatigi sein!" Tonjandji sagte: "Du kannst drei Tage vor mir abmarschieren, und ich werde dich in einer Stunde einholen. Deshalb ist es besser, wenn ich Silatigi bin." Da sagte Kallondji: "So sei du Silatigi; wir wollen es versuchen."

Die beiden wanderten ab. Sie kamen am Abend des ersten Tages an ein Dorf, dessen Häuptling begrüßte sie und fragte: "Wo kommt ihr her?" Tonjandji sagte: "Wir kommen aus Tonjadugu" (aus dem Lande der Wahrhaftigen). Darauf sagte der Dorfchef nichts, aber die zwei Wanderer erhielten nichts zu essen. Sie kamen am anderen Tag in ein Dorf. Es war die gleiche Sache. Sie bekamen wieder nichts zu essen. So ging es während drei Tagen, und als sie dann gar zu großen Hunger hatten, sagte Kallondji: "So geht es nicht weiter."
Tonjandji sagte: "Nein, so geht es nicht weiter, jetzt kannst du einmal Silatigi sein." Kallondji sagte: "Gut!"

Sie kamen wieder in ein Dorf. In diesem Dorf war gerade der Sohn des Häuptlings gestorben. Es war ein wunderschöner Bursche, und keiner kam ihm im ganzen Lande gleich. Als die beiden in das Dorf kamen, klagten alle Weiber, heulten alle Alten. Kallondji kümmerte sich nicht darum, sondern sagte (brüsk): "Guten Tag, ich will trinken, gebt mir Wasser!"
Tonjandji sagte: "Gib acht, daß du die Leute nicht reizt; sieh, alle klagen!" Kallondji sagte: "Ach was! Was gibt es denn?" Die Leute sagten: "Der Sohn unseres Häuptlings ist gestorben, und das war der schönste Bursche im ganzen Land!"
Kallondji sagte: "Was? Das ist alles? Könnt ihr ihn denn nicht wiedererwecken?"
Die Leute sagten: "Nein, kannst du es denn?" Kallondji sagte: "Nichts einfacher als das. Wenn ihr es wollt, kann ich das ja morgen früh tun. Zunächst gebt mir aber einmal Wasser zum Trinken, denn ich habe Durst." Die Leute sagten: "Wer so etwas kann, darf nicht Wasser trinken, dem soll man Milch bringen." Man brachte eine große Schale mit Milch. Alle Leute bemühten sich um Kallondji und Tonjandji. Der Dorfhäuptling kam auch herbei und sagte: "Du kannst meinen Sohn erwecken?" Kallondji sagte: "Nichts ist einfacher. Wenn du es zahlst, will ich es morgen früh ausführen." Der Dorfchef sagte: "Ich will dir zwei männliche und zwei weibliche Sklaven, zwei Kühe und zwei Pferde geben."
Kallondji sagte: "Gut, also morgen früh!"

Darauf kam nun jeder, der einen teuren Verstorbenen hatte, und setzte sich zu Kallondji. Der eine sagte: "Wenn du mir meinen im vorigen Jahre verstorbenen Vater erwecken willst, werde ich dir eine Kuh schenken." Ein zweiter sagte: "Wenn du mir meine vor zwei Jahren verstorbene Frau erwecken willst, sollst du von mir einen Sklaven erhalten." Kallondji sagte: "Gut, ich werde euch alle eure Toten morgen früh erwecken und ihr bezahlt mir das dann." Die Leute brachten Kallondji und Tonjandji sehr viel gute Speise. Abends sagte Tonjandji: "Wollen wir nun nachts fliehen?" Kallondji sagte: "Warum denn? Morgen werde ich gut verdienen und wir werden ausgezeichnet essen."
In der Nacht machte sich Kallondji eine kleine Kalebasse zurecht zu einem Baranikurrukurru. (Dies Instrument wird auch Talimbrani genannt und besteht aus einer Blasekugel, über deren Löcher Membranen von Spinngeweben gezogen sind.) Am anderen Morgen fragte Kallondji: "Habt ihr schon das Grab gegraben?" Die Leute sagten: "Ja, das ist geschehen." Kallondji sagte: "So bringt den Toten dahin und laßt dort alles Volk zusammenkommen."

Er ging selbst hin, stieg in die Grube und höhlte mit den Händen noch sorgfältig den Seitengraben aus. Dann sagte er: "Legt den Toten hinein und deckt ihn mit einem Tuch zu." Die Leute taten es. Kallondji kroch unter das Loch. Kallondji wandte nun erst den Kopf nach oben und rief laut durch das Tuch in der Richtung auf das versammelte Volk: "Nakunu"
(d. h. "ich erwecken", soll heißen: "ich will dich wiedererwecken"). Dann beugte er sich vor und herab und sprach gegen den Boden in die Blasekugel: "Nilakunu inam bè kunu" (d.h. "Wenn erwecken, mach alle erwecken", soll heißen: "Wenn du einen erweckst, dann erwecke uns andere Toten auch"). Das wiederholte er dreimal. Dann fuhr er plötzlich auf: "Ach, das ist dumm!" Der Dorfhäuptling fragte: "Was ist dumm?" Kallondji sagte: "Es ist nichts Besonderes. Es ist da nur dein älterer Bruder, der vor dir das Dorf regiert hat, der will durchaus als erster und vor deinem Sohn erweckt werden. Wir werden ihm als dem ältesten Mitglied deiner Familie willfahren müssen. Warte also einen Augenblick, er ist sogleich am Leben." Der König sagte: "Nein, das will ich nicht. Das will ich auf keinen Fall, das will ich nicht." Er sagte das, weil sein verstorbener älterer Bruder ein sehr beliebter Dorfchef gewesen war. Kallondji sagte: "Das geht aber nicht anders. Entweder alle oder keinen, denn man kann nicht so unhöflich sein, einem so angesehenen Mann wie deinem älteren Bruder den Vortritt vor einem so jungen Bengel wie deinem gestern verstorbenen Sohn zu verweigern."
Der Häuptling sagte: "So will ich, daß keiner erweckt wird." Kollondji sagte: "Und wer bezahlt mich dann?" Der Häuptling sagte: "Ich habe die Sache angeregt und werde dir deswegen zahlen, was ich versprochen habe." Kallondji sagte: "Gut denn!" Er stieg aus der Grube. Er erhielt die Bezahlung vom Häuptling und kehrte als wohlhabender Mann heim.

Afrikanischen Märchen
(Mande)

Wir pflügen und wir streuen

Wir pflügen und wir streuen

Wir pflügen und wir streuen
Den Samen auf das Land,
Doch Wachstum und Gedeihen
Steht in des Himmels Hand:
Der tut mit leisem Wehen
Sich mild und heimlich auf
Und träuft, wenn heim wir gehen,
Wuchs und Gedeihen drauf.
Alle gute Gabe
Kommt her von Gott, dem Herrn,
Drum dankt ihm, dankt
Und hofft auf ihn.

Er sendet Tau und Regen
Und Sonn- und Mondenschein
Und wickelt seinen Segen
Gar zart und künstlich ein
Und bringt ihn dann behende
In unser Feld und Brot:
Es geht durch unsre Hände,
Kommt aber her von Gott.
Alle gute Gabe
Kommt her von Gott dem Herrn,
Drum dankt ihm, dankt
Und hofft auf ihn.

Was nah ist und was ferne,
Von Gott kommt alles her,
Der Strohhalm und die Sterne,
Das Sandkorn und das Meer.
Von ihm sind Büsch und Blätter
Und Korn und Obst, von ihm
Das schöne Frühlingswetter
Und Schnee und Ungestüm.
Alle gute Gabe
Kommt her von Gott dein Herrn,
Drum dankt ihm, dankt
Und hofft auf ihn.

Er läßt die Sonn aufgehen,
Er stellt des Mondes Lauf;
Er läßt die Winde wehen
Und tut die Wolken auf.
Er schenkt uns so viel Freude,
Er macht uns frisch und rot;
Er gibt dem Viehe Weide
Und seinen Menschen Brot.
Alle gute Gabe
Kommt her von Gott dem Herrn,
Drum dankt ihm, dankt
Und hofft auf ihn.

Matthias Claudius

Hoffnung

Hoffnung

Es reden und träumen die Menschen viel
Von bessern künftigen Tagen,
Nach einem glücklichen goldenen Ziel
Sieht man sie rennen und jagen;
Die Welt wird alt und wird wieder jung,
Doch der Mensch hofft immer Verbesserung.

Die Hoffnung führt ihn ins Leben ein,
Sie umflattert den fröhlichen Knaben,
Den Jüngling locket ihr Zauberschein,
Sie wird mit dem Greis nicht begraben.
Denn beschließt er im Grabe den müden Lauf,
Noch am Grabe pflanzt er – die Hoffnung auf.

Es ist kein leerer schmeichelnder Wahn,
Erzeugt im Gehirne des Toren,
Im Herzen kündigt es laut sich an.
Zu was Besserm sind wir geboren!
Und was die innere Stimme spricht,
Das täuscht die hoffende Seele nicht.

Friedrich v. Schiller

Hand an sich legen

Hand an sich legen
(1976)

Der Freitod ist ja viel mehr als der pure Akt der Selbstabschaffung. Es ist ein langer Prozeß des sich Hinneigens, der Annäherung an die Erde, ein Aufsummieren vieler Ziffern von Demütigungen, welche von der Dignität und Humanität des Suizidärs nicht angenommen werden, er ist – und ich verwende einmal mehr ein leider unübersetzbares französisches Wort – un cheminement, eine Art von Fortschreiten auf einem Wege, der geebnet ist, wer weiß, vom Anbeginn her. Irre ich mich nicht, dann ist die Todesneigung eine Erfahrung, die jedermann in sich machen könnte, sofern er nur entschlossen wäre, zu sterben ohn’ Unterlaß. Sie ist in jeder Art von Resignation enthalten, in jeder Faulheit, jedem Sichgehen-Lassen – denn wer sich gehen läßt, neigt sich bereits freiwillig dorthin, wo letzten Endes sein Platz ist. Dann wäre also der Freitod, entgegen all dem, was ich dreist behauptete, nicht frei? Wäre nur ein Neigen zur eingeborenen Neigung hin? Wäre nichts als die Aufsichnahme der ultimen Unfreiheit, die das Nichtsein ist, und in deren Fesseln wir uns schlagen lassen?
Nicht doch. Die Neigung, sage ich, ist da: aber der Lebenstrieb ist auch da, und wer den Freitod wählt, erkürt etwas, das dem Lebenstrieb gegenüber das Schwächere ist. Er sagt gleichsam: Dem Starken Trutz! – indem er gegen den Lebenstrieb der Todesneigung nachgibt. Und wenn ich sagte, es sei der Weg zum Freitod geebnet vom Anbeginn her, so kann und will das doch nicht heißen, daß nicht auch der Suizidant dem Seins- und Lebenswillen unterläge, von ihm bedingt werde. Einer ißt noch zu Abend, ehe er die gehorteten Tabletten nimmt. Er gibt der tumben biologischen Triebkraft, was sie fordert. Droben aber, im Hotelzimmer, wo auf seinem Tisch die Abschiedsbriefe liegen samt dem Geld für die Hotelrechnung und den aufgesammelten Barbituraten, neigt er sich hin und läßt sich nicht mehr treiben. Die Erde wird ihn haben, nur anders, als der Dichter es meinte. Der Gedanke, Staub zu sein, ist ebenso schreckhaft wie wohltuend. In diese Wohltat des Sterbens Ausdruck eines nach Freud aus dem allgemeinen Wiederholungszwang von Kindern und Neurotikern erschlossenen Verlangens, "zurückzukehren", zu folgen, wie es wörtlich heißt, "dem belebten Organischen innewohnenden Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustands"? Aber welch eines denn? Das Anorganische, aus dem wir dank eines "Zufallstreffers", wie Jacques Monod sagt, zu Organismen wurden – dieses Anorganische war kein ‘Zustand’, den wir auf uns beziehen können. Die nichtbelebte Materie kennt und erfährt keinerlei Art von Zuständlichkeit. Unsere Todesneigung, sofern wir den spekulativen Begriff anwenden dürfen, ist also kein Zurück. Noch weniger ein Voraus. Sie geht nach der Unsituierbarkeit des nichtigen Nicht.
– Womit wir wieder hart uns stoßen an den Grenzen der Sprache, die Ausdruck sind der Grenzen des Seins.

…Nach den letzten Selbstgesprächen, die vielleicht vor dem Spiegel stattfinden, wo er seinem schon abgeurteilten Ich nachjagt, ohne es einzufangen, nur um es noch zu erlegen, kommt unerbittlich der Augenblick, der frei gewählte, an dem er Hand an sich legt. Etwas noch Unheimlicheres als die Hatz nach dem Ich tritt hier in vielerlei Gestalt ihn an: die Zeit. Um neun Uhr abends soll es geschehen – (die meisten Suizide ereignen sich nach der Statistik in den Abend- und frühen Nachtstunden). Um neun Uhr, jetzt ist es sieben, zweimal sechzig Minuten zu je sechzig Sekunden also, der Sekundenzeiger trottet unermüdlich, schon ist eine Minute vergangen, zwei, drei, fünf, fünfzehn gingen dahin, man kann die Uhr zerschlagen, nicht aber das leise Ticken
der reinen Zeit abstellen. Und in der Zeit, die noch verbleibt – es kann sich um Stunden handeln, aber auch nur um Minuten, die einer sich noch gönnt – wird
die Zeit als solche verspürt. Man trägt sie in sich, es ist ja nur bedingt wahr, was Freud sagt, es kenne das Unbewußte keine Zeit, reihe Ereignisse auf ohne chronologische Ordnung, mische sie, kehre sie um. Das Zeitvergehen ist immer präsent: im Bewußtsein ohnedies, in einem metaphorischen Innenraum, der tiefer gelagert ist als alles Unbewußte, tickt sie gleichfalls. Denn wenn es wahr ist, daß das Ich Welt ist und Raum, in die es sich wirft und entwirft, so ist nicht weniger wahr, daß es auch Zeit ist: diese ist unablöslicher verklammert mit dem Subjekt als der Raum, in den es schreitet, um zugleich Ich und Welt zu werden.
Es ist der Körper, der sie verspürt. Sie war, diese Körper-Zeit, stets zugleich relativ und absolut irreversibel. Relativ: der Herzschlag wiederholte sich unermüdlich, ein Atemzug folgte auf den anderen, Schlaf und Erwachen lösten einander ab, immer wieder – da konnte man meinen, es würde in alle Ewigkeit so weitergehen. Durch Jahre hindurch ging jemand sommers an den gleichen Kurort, ein Juli glich dem anderen, ein September sah aus wie derselbe Monat im Vorjahr, das Hotelzimmer, vorsorglich gebucht zur rechten Zeit, war das nämliche. Die relativ irreversible Zeit stellte sich hin, als sei sie keine, als sei sie umkehrbar: 1966 besuchte ich den gleichen Ort an der Nordseeküste wie 1972, die Daten besagen nichts.

Und 1978, wenn ich über die gleiche Autobahn nach dem gleichen Ort fahre, wird gewesen sein wie 1966. Ich wiederhole, es weiß der Körper es besser. Er verzeichnet, ein böse verläßlicher Registrierapparat, nicht nur die Jahre, die Monate und Tage, sondern jeden Herzschlag, keiner ist identisch mit dem voraufgegangenen. Das Herz nützt mit jedem Pumpenzug sich ab, die Adern, Nieren, Augen verbrauchen sich. In Momenten jähen, unerwarteten Gewahrwerdens der Hin-Fälligkeit, wie jederman sie erlebt, weiß der Mensch, daß er ein Geschöpf der Zeit ist – da braucht er gar nichts zu kennen von der Entropie. Irgendwann einmal wird die relativ irreversible Zeit, die wir aus dem Alltag kennen – ach, morgen muß ich wieder das gleiche tun, dieselben Wege gehen, die bekannten Gesichter sehen, und noch übers Jahr wird es so sein – vom Sterbenden als absolut unumkehrbar erfahren. Zeit: Anschauungsform des tiefinneren Sinnes! Aber nun ist das Tiefinnerliche heraufgetaucht, an die Höhe meines Ich. Noch eineinhalb Stunden, eine kleine Ewigkeit. Ein Nichts. Es reden jetzt der Leib und der Geist zugleich, ihr Stimmenrauschen ist hörbar im Raume. Der Körper weiß, er wird in 90 Minuten, Zeit, in der ein Spielfilm normalerweise abrollt, nicht mehr er selber sein.

…Neuere Forschungen auf dem Gebiete der theoretischen Physik haben über das objektive Raum-Zeit-Kontinuum hinaus, sogar jenseits der Thermodynamik einen Zeitbegriff definiert, nach welchem die Zeit einmal begann – ein Ding, das keiner voll aussinnt. Und viel zu fremd, als daß man klage und sage. Wer Hand an sich legt, ist auf mörderische Weise – ‘Selbstmord’ gut, es komme das widrige Wort für einmal hier zu stehen – Herr sowohl wie Knecht der Zeit, seiner, der einzigen, von der er noch wissen will, denn jetzt befindet er sich schon im Zustand totaler Ipseität. Was schert mich Weib, was schert mich Kind; was scheren mich Physik und objektive Erkenntnis, was schert mich das Geschick einer Welt, die mit mir versinken wird.

Die Zeit drängt und preßt sich zusammen in einem Ich, das sich nicht hat. Die Welt als Zeitlichkeit stößt die Welt des Raumes aus der Grube, in der das Ich verborgen ist.

Der Hand an sich legt, hat keine Chance mehr, noch anderes zu ergreifen als gestorbene Zeit, anderswo hinzugelangen als zum Trümmerfeld der Eigengeschichtlichkeit, die desto gegenstandsloser ist, je mehr Gegenstände, Ruinen von Gegenständen sich aufhäufen. Diese bilden keinen Widerstand mehr für das Subjekt; es ist nicht mehr gedrängt, sie zu bewältigen. – Und wie viele Minuten noch?

Jean Améry

Wahrheit

 

Wahrheit
(ca. 550 v. Chr.)

Nicht ob ich tot einst lieg auf ein königlich Lager gebettet,
Kümmert mich, sondern gewährt sei nur im Leben die Lust.
Sanfter auf Teppichen nicht als auf Stechkraut ruht der Gestorbne;
Wenig verschlägt es, ob hart oder ob weicher das Holz.

Theognis von Megara
(übertragen von Eduard Mörike)

 

In weite Ferne gehen

IN WEITE Ferne gehen Hügel: Menschenköpfe,
Mich wird man nicht mehr sehn, ich werd verschwindend klein-
Und doch, in Kinderspielen, Büchern, zärtlichen Geschöpfen
Werd ich einst auferstehend sagen, daß die Sonne scheint.

Ossip Mandelstam

Traurigkeit

Traurigkeit

Die mir noch gestern glühten,
Sind heut dem Tod geweiht,
Blüten fallen um Blüten
Vom Baum der Traurigkeit.

Ich seh sie fallen, fallen
Wie Schnee auf meinen Pfad,
Die Schritte nicht mehr hallen,
Das lange Schweigen naht.

Der Himmel hat nicht Sterne,
Das Herz nicht Liebe mehr,
Es schweigt die graue Ferne,
Die Welt ward alt und leer.

Wer kann sein Herz behüten
In dieser bösen Zeit?
Es fallen Blüten um Blüten
Vom Baum der Traurigkeit.

Hermann Hesse

Grabschrift des Boethius

Grabschrift des Boethius auf seine erste Frau, Helpes
(ca. 510 n. Chr.)

Ich, die ich Elpes hieß, war ein sizilisch Kind,
Doch hat mein Ehgemahl mein Wohnhaus weit versetzet,
Ohn den mich weder Tag, noch Nacht, noch Stund ergötzet;
Der war mein Geist und Fleisch, wie recht Verliebte sind.
Dieweil denn er noch lebt, bin ich nicht ganz davon.
Mein größtes Seelenteil wird von mir übrig bleiben,
Mein Leichnam ruht, als fremd in diesen heilgen Läuben,
Und harrt, zum Zeugnis fort, auf Gottes Richterthron.
Niemand berühr mein Grab, es sei denn daß dabei
Mein Liebster seinen Leib zu meinem wolle fügen;
Daß wir zugleich allhier, wie vor im Bette liegen,
Und unser Staub verknüpft, wie unser Leben, sei.

Luicius Severinus Boethius von Rom
(übertragen von Melmont)

Laeja

Laeja und Lingeo

Eine Frau gebar einen Knaben. Am gleichen Tage wollte man ihm einen Namen geben. Der Knabe sagte: "Laßt, ich weiß alles sehr gut. Ich will Lingeo heißen." Der Knabe schlief drei Tage, dann war er ein ausgewachsener Mann. Am fünften Tage sagte sein Vater Laeja: "Wir wollen in den Busch gehen, um Früchte der Mba (Ngaschi-Palme) zu schlagen." Sie gingen in den Busch. Jeder ging in eine andere Richtung. Nach einiger Zeit fand Laeja zwei Bäume; der eine hatte zwei, der andere vier Fruchtbündel. Laeja rief: "Lingeo, komm!" Lingeo sagte: "Ich weiß schon, du hast zwei Mba gefunden; der eine Baum hat zwei, der andere Baum vier Fruchtbündel." Laeja sagte (für sich): "Was ist das für ein Knabe, der das alles weiß? Er ist geboren, er spricht; er ist drei Tage alt, da ist er erwachsen! Was soll das bedeuten?"

Lingeo kam. Er stieg auf eine Mba. Er schlug die Blätter. Er wollte die Früchte abhacken. Lingeo rief: "Vater, geh beiseite, daß die Früchte dich nicht treffen!" Laeja sagte: "Ich weiß". Die Früchte stürzten herab und trafen Laeja auf den Kopf. Sie zerdrückten Laeja. Laeja starb. Aber Laeja hatte ein starkes Zaubermittel. Laeja teilte sich. Der eine Laeja blieb unter dem Palmbaum liegen, der andere Laeja ging schnell ins Dorf. Lingeo sah ihn nicht.

Lingeo rief: "Vater!" Der Vater antwortete nicht. Lingeo rief nochmals: "Vater!"
Laeja antwortete nicht. Lingeo stieg vom Baum herab. Lingeo fand den Vater unter dem Baume tot. Lingeo lief schnell in das Dorf. Er traf den andern Laeja. Er war lebend und gesund und fegte das Dorf. Lingeo lief schnell in den Wald zurück. Da lag Laeja und war gestorben. Lingeo lief schnell in das Dorf. Da sah er Laeja die Wege fegen. Lingeo lief fünf- bis sechsmal hin und her und verglich die beiden Laeja. Endlich blieb er vor dem Laeja im Dorf stehen und fragte: "Bist du mein Vater?" Laeja sagte: "Du weißt ja alles. Ich hin nicht dein Vater. Dein Vater ist im Wald gestorben." Lingeo lief zu seiner Mutter und sagte: "Im Wald ist mein Vater von Mbafrüchten erschlagen. Der Mann hier hat die gleichen Augen, Mund, Nase, Ohren, Arme, Füße. Ist er mein Vater?" Die Mutter sagte: "Du sagtest: ‘Ich weiß alles’. Weißt du dieses nicht?"

Afrikanische Märchen
(Bassonge)